Schwarze Madonna von Tschenstochau.

Die byzantinische Muttergottes — die der Überlieferung nach auf den Evangelisten Lukas und auf die Engel zurückgeht — ist der “Wahrheit” der Mariä unendlich viel näher als das naturhörige Bildnis, das ja notgedrungen immer eine andere Frau darstellt. Denn entweder stellt man die heilige Jungfrau so dar, wie sie ausgesehen hat, dann aber muss der Maler sie gesehen haben; oder man bietet von der Jungfrau und von ihrer geistigen Wirklichkeit ein Sinnbild dar, aber dann hat sich die Frage der äußerlichen Ähnlichkeit nicht mehr zu stellen.  Diese zweite Lösung, die allein sinnvoll ist, wird in den Ikonen verwirklicht: Was diese nicht durch die leibliche Ähnlichkeit darzustellen vermögen, das drücken sie mit der Sprache des Sinnbildes aus, einer Sprache, die die Strenge des Geistes mit dem Jubel der Erlösung verwebt.

Die Ikone vermittelt die Heiligkeit der Jungfrau und gleichzeitig auch die dem heiligen Bild dank seines sakramentalen Wesens innewohnende Segenskraft. So wird die Ikone der inneren Wirklichkeit der Gottesmutter gerecht und dadurch auch der kosmischen und göttlichen Wirklichkeit, die Maria auf menschlicher Ebene verkörpert, während das naturalistische Bild — abgesehen von seiner offenbaren und unvermeidlichen Lüge — nichts als die Tatsache vermittelt, dass Maria eine Frau war. Zwar mag es vorkommen, dass auf dieser oder jener Ikone die Gesichtszüge wirklich denen der lebenden Maria gleichen — sofern das der byzantinische Stil überhaupt zulässt —, doch eine solche Ähnlichkeit ist von der Sinnbildlichkeit und von der schriftmäßigen Schönheit und Wirkungskraft des Bildes unabhängig, ist eine Gnade für sich, eine Eingebung, deren sich der Künstler kaum bewusst sein kann.


Frithjof Schuon, Von der inneren Einheit der Religionen, Verlag H. J. Maurer, 2007, s. 70-71.

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