Wenn es erlaubt ist, die Dinge auf eine einfache und eher summarische Formel zu bringen, kann man sagen, daß für die Griechen Wahrheit ist, was dem Wesen der Dinge entspricht, für die Christen aber, was zu Gott führt. Diese christliche Haltung mußte in dem Maße, als sie zur Ausschließlichkeit neigte, den Griechen als »Wahnsinn« vorkommen. In den Augen der Christen dagegen machten die Griechen das Denken zum Selbstzweck, ohne Zusammenhang mit irgendeinem persönlichen Verhältnis zu Gott; es war also eine »Weisheit nach dem Fleische«, da es von selbst nicht den gefallenen und ohnmächtigen Willen umzuwandeln vermochte, sondern im Gegenteil durch sein Selbstgenügen die Menschen von der Sehnsucht nach Gott und nach dem Heil ablenkte.
Vom griechischen Standpunkt aus sind die Dinge, was sie sind, abgesehen davon, was wir daraus machen mögen; vom christlichen Standpunkt – schematisch und a priopri gesprochen – hat allein user Verhältnis zu Gott einen Sinn. Den Christen könnte man vorwerfen, daß ihre Anschauungsweise zu sehr um das Wollen und um das eigene Heil kreiste und den Griechen, daß sie einerseits zu denklustig waren und andrerseits einer allzu vertandesmäßigen und zu menschlichen Vollkommenheit anhingen; in gewisser Hinsicht war es der Gegensatz zwischen einem Liebeslied und einem mathematischen Lehrsatz. Man könnte auch sagen, daß die Hellenisten im Grundsätzlichen weitgehend recht hatten, die Christen aber in der Tat, wenigstens in jenem besonderen Sinne, den man ohne Mühe wahrnehmen kann.
Frithjof Schuon, Das Ewige im Vergänglichen, Otto Wilhelm Barth Verlag, 1984, S. 63-64.